Schulleiter Rolf Lindemann schreibt über die Frage, ob israelisch-palästinensische Begegnungen in der gegenwärtigen politischen Situation noch möglich sind und welchen Beitrag Talitha Kumi dazu leisten kann.
Im Fadenkreuz der Normalität
Das Schulzentrum Talitha Kumi liegt im Westjordanland (Westbank) zwischen Jerusalem und Bethlehem in einer sehr besonderen geographischen Lage. Schaut man auf den Haupteingang der Schule, so blickt man in die C-Zone, die unter israelischer Sicherheitsverantwortung liegt. Der Nebeneingang hingegen führt in die A-Zone, die unter palästinensischer Verwaltung steht. Die Grenze zwischen der A-Zone und der C-Zone verläuft somit mitten auf dem Schulgelände. Vom Aussichtspunkt der Schule sieht man außerdem die Siedlung „Har Gilo“ und die berühmte Straße 60, die nach Hebron und zu weiteren israelischen Siedlungen durch die Westbank führt. Entlang dieser Straße sieht man einen Checkpoint und eine hohe Mauer, die Israel mitten in Palästina zwischen der A-Zone und der C-Zone errichtet hat.
In diesem Konfliktfeld liegt Talitha Kumi wie eine Insel, durch eine kleine Mauer nach außen abgeschirmt, mit einem kleinen Wald und Terrassen mit Weinstöcken, mit der Schule, dem Kindergarten, dem Internat und dem neu renovierten Gästehaus. Es ist ein Ort des Friedens, wo fast eintausend christliche und muslimische Kinder und Jugendliche gemeinsam leben und lernen. Sie erhalten hier eine humanistische Bildung, die durch kirchliche und individuelle Spenden und durch die Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht wird.
Gleichzeitig macht der Schulalltag aber auch immer wieder in bestürzender Weise deutlich, dass Talitha Kumi mitten im Konflikt liegt. So ist bei einer Razzia israelischer Soldaten in einem Flüchtlingslager in Bethlehem einer unserer Schüler aus der Hotelfachschule erschossen worden (siehe Ausgabe 1/2015) und an einem Tag vor Weihnachten fiel der Unterricht aus, da die Gewalt in Bethlehem und in einigen arabischen Stadtteilen Jerusalems so eskalierte, dass der Weg zur Schule zu gefährlich geworden war. Mit größter Besorgnis ist zu beobachten, dass sich immer jüngere Kinder an den Gewaltausschreitungen beteiligen und dass Anschläge etwa durch Messerattacken auch auf unbeteiligte Passanten immer unberechenbarer werden.
Auf der politischen Ebene kann man wahrnehmen, wie beide Seiten die Trennung vorantreiben. Es fallen keine Mauern, sondern es werden Mauern errichtet, auch in den Köpfen. Die militärischen Auseinandersetzungen nehmen zu. So hat der Gaza-Krieg 2014, der uns alle in seiner Heftigkeit überrascht hat, zu einer weiteren Verhärtung geführt. In der Weihnachtszeit, in der die Christen der ganzen Welt auf Bethlehem als einen Ort und als ein Symbol der Hoffnung schauen, sahen sie 2015 stattdessen Straßenschlachten voller Hass und Verzweiflung.
In dieser Situation stellt sich die Frage, ob israelisch-palästinensische Begegnungen überhaupt noch gewollt und möglich sind und welchen Beitrag Talitha Kumi dazu leisten kann. Auf Schülerebene ist das so gut wie unmöglich geworden. Die palästinensischen Schüler dürfen nicht nach Israel und die israelischen nicht nach Palästina. Die Erziehungsministerien beider Seiten achten streng darauf, dass dies eingehalten wird. Darüber hinaus haben weder Schüler noch Eltern genügend Vertrauen, Begegnung mit der anderen Seite zu wagen. Vor einigen Wochen, als die Situation sehr angespannt war, besuchte eine amerikanische Reisegruppe unser Gästehaus. Dazu gehörte auch ein Jude, der eine Kippa trug und einen Spaziergang auf dem Gelände von Talitha Kumi machte. Als Schüler dies sahen, kamen sie ganz aufgeregt zur Schulleitung mit der Befürchtung, dies sei ein Siedler, der ihnen etwas antun wolle. Dieses Beispiel zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie weit sich beide Seiten inzwischen voneinander entfernt haben, welche Vorurteile sich verfestigt haben und wie schwierig selbst Begegnung auf niedrigstem Niveau geworden ist.
In der Vergangenheit hat sich Talitha Kumi stets als Brücke zwischen Israel und Palästina verstanden. So gab es trilaterale Schüleraustauschprojekte, bei denen sich in Deutschland und im Heiligen Land Israelis, Palästinenser und Deutsche begegnet sind. Von diesen Projekten hat nur eines überlebt, bei dem sich in Emmendingen Schüler aller drei Gruppen treffen und austauschen. Beim Gegenbesuch verzichten wir auf diese Begegnung hier vor Ort.
Auch im Gästehaus sind derartige Begegnungen seltener geworden und werden sehr kritisch betrachtet. Es gibt noch Begegnungen zwischen Juden und Christen des Jerusalem Centers, welches traditionell die Beziehungen beider Gruppen fördern und weiterentwickeln will. Und auch bei Treffen von „Frauen – Kinder – Gruppen“ gibt es Begegnungen beider Seiten. Aber leider nimmt es zu, dass immer, wenn auch nur der Anschein von „Normalisierung der Beziehungen und Begegnungen“ vermutet wird, Molotowcocktails auf das Schulgelände fliegen, der Gästehausleiter bei der Polizei einbestellt wird und die palästinensischen Behörden mit Repressalien drohen.
Gegen diese Haltung setzen wir jedoch ein Zeichen, indem wir alle Menschen in unserem Gästehaus so willkommen heißen wie an allen anderen Orten in der Welt. In Talitha Kumi schaffen wir bewusst die Möglichkeit der Begegnung mit dem Ziel, dass alle Gäste sich ein eigenes Bild von der Situation im Heiligen Land machen können. Die Rückmeldungen unserer Gäste, deren Eindrücke sich nach ihrem Aufenthalt hier gegenüber ihren ursprünglichen Erwartungen sehr positiv verändert haben, zeigen uns, dass wir Begegnungen und neue Erfahrungen ermöglichen. Dabei sei ausdrücklich betont, dass nur ein ausgewogenes Bild, das die Bedürfnisse und Sorgen beider Seiten bewusst macht, der Situation gerecht wird. Was ist das aber für ein Land, wo Menschen, die sich für Frieden und Annäherung einsetzen, von der eigenen Seite extrem unter Druck gesetzt werden und teilweise sogar ihr Leben riskieren und andere, die sich für mehr Gewalt und Druck einsetzen, sofort weitere Anhänger haben?
Im Schulalltag stärken wir die Begegnung der christlichen und muslimischen Religion und der palästinensischen und deutschen Kultur. Dies geschieht dadurch, dass die Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Austauschreisen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Rahmen von Fortbildungen Deutschland kennenlernen. Vor Ort fördern wir die Arbeit in deutsch-palästinensischen Teams, der deutsche Abiturzweig hat sich stabilisiert und alle bekennen sich im gemeinsamen Leitbild zu demokratischen Grundwerten und einem deutsch-palästinensischen Profil. In internationalen Projekten machen wir – auf Umwegen – auch Begegnungen zwischen Israel und Palästina wieder möglich. Dabei sei das „Model United Nations (MUN)“ genannt, wo Schüler in ein anderes Land fahren und die Arbeit der UNO simulieren. Sie vertreten dort ein fremdes Land und müssen sich in die politische Denkweise dieses fremden Landes hineinversetzen. Die Schüler von Talitha Kumi nahmen 2015 an MUN-Projekten in Ramallah, in Jerusalem und auf Zypern teil, wo in den internationalen Begegnungen auch Begegnungen mit Israel möglich sind. (Auch die anderen lutherischen Schulen nehmen an MUN-Projekten teil. Anm. d. Red.) Besonders gern sind wir dem Wunsch der Schüler, Hebräisch lernen zu wollen, nachgekommen
und bieten dies seit dem Schuljahresbeginn in der Mittelstufe an.
Wir sollten unaufgeregt, besonnen und politisch neutral die Bildungsarbeit fortsetzen, denn Bildung ist die nachhaltigste Entwicklungshilfe und dient dem Frieden auf besondere Weise. Die Bekanntheit von Talitha Kumi, die Wertschätzung und Unterstützung von zahlreichen Menschen und Institutionen auf der ganzen Welt sind ein Zeichen dafür, dass die Schule auf dem richtigen Weg ist. Ganz aktuell wird dies dadurch bestätigt, dass Talitha Kumi im April 2016 einer Einladung zum Forum „Welt-Klasse-Schulen“ des Auswärtigen Amtes nach Berlin folgen wird, die Außenminister Frank Walter Steinmeier gegenüber fünfzig der 1.400 Partnerschulen Deutschlands ausgesprochen hat. Als Gründe für diese Auszeichnung wurden genannt, dass Talitha Kumi in einem arabischen Land die Mädchen auf besondere Weise fördert und dass im Community College eine Hotelfachschule mit einem dualen Ausbildungszweig in Partnerschaft mit Deutschland aufgebaut wurde. Wir hier in Talitha Kumi sprechen nicht nur über Frieden, sondern wir hegen und pflegen ihn, gerade weil wir den Untaten ringsum trotzen und mit unserer Arbeit ein Zeichen setzen für die friedliche Begegnung von Menschen und Kulturen.
Dieser Beitrag wurde auch in der Zeitschrift „Im Lande der Bibel“, Ausgabe 1/2016 (PDF-Datei), veröffentlicht.