Talitha Kumis Schulleiter Matthias Wolf bei der Abschlussfeier im Frühsommer 2019

Interview mit Direktor Matthias Wolf

Was macht Talitha Kumi grundsätzlich aus? Wir haben Schulleiter Matthias Wolf nach drei Jahren Amtszeit um eine Bilanz gebeten.

Herr Direktor Wolf, wie würden Sie den Auftrag Talitha Kumis als evangelisch-lutherische Schule zusammenfassen?

Umfassende Bildung war schon immer eine Kernaufgabe christlicher Existenz. Dem Bildungsauftrag, junge Menschen zu mündigen BürgerInnen zu machen, die Verantwortung in ihrem Umfeld übernehmen, fühlen wir in Talitha Kumi uns verpflichtet. Wir verstehen uns als inklusive Schule, an der interreligiöse Vielfalt und Gleichberechtigung zwischen Mädchen und Jungen selbstverständlich sind, gleichzeitig haben wir ganz klar ein evangelisches Profil. Wenn die lutherischen Schulen im Heiligen Land dazu beitragen, dass die Minorität der ChristInnen hier wieder Mut findet, das gesellschaftliche Leben mitzugestalten und nicht auszuwandern, dann freue ich mich ganz besonders.

Die palästinensische Gesellschaft ist mehrheitlich muslimisch geprägt. Auch über die Hälfte ihrer Schülerschaft ist mittlerweile muslimisch. Wie lässt sich Verschiedenheit leben und gleichzeitig ein evangelisches Profil gestalten?

Talitha Kumi bietet unseren Kindern und Jugendlichen ein einzigartiges Lernumfeld: interkulturell, international, interreligiös. Ein evangelisches Profil zu gestalten – unter den Bedingungen von Diversität und Inklusion, ist eine tägliche Herausforderung. Aber es muss kein Widerspruch sein. Ich bin zwar kein Theologe von Hause aus, solche Fragen regen mich jedoch immer wieder an, darüber nachzudenken, wie Evangelium und Erziehung zusammenhängen. Ich würde es so ausdrücken wollen: Das Evangelium – also die frohe Botschaft von der Versöh- nung des Menschen mit Gott – gilt allen Menschen, sie ist sozusagen „inklusiv“. Jede und jeder hat ein Anrecht darauf, insofern ist ein evangelisches Profil immer auch ein inklusives Profil. Mir geht es weniger darum, die Kulturen zu vermischen oder unaufrichtige Kompromisse zu finden, sondern jede und jeder – ob christlich, muslimisch oder jüdisch – darf wissen, dass sie oder er hier angenommen ist.

Grundsätzlich spiegelt die Situation an unserer Schule die Realität christlicher Existenz im Heiligen Land wieder: Die ChristInnen sind umgeben von Menschen anderer Religionen und Glaubensbekenntnisse. In diesem Sinne sind ChristInnen immer auch lebendige ZeugInnen des Herrn, dem sie folgen, Jesus Christus. Dieses Zeugnis wollen wir hier in der Schule deutlich leben. Werte kann man nur dann überzeugend vermitteln, wenn diese für einen selbst von Bedeutung sind. Ein sehr wichtiger Wert für uns ist beispielsweise die Frage der Versöhnung. Dies bedeutet einerseits Versöhnung durch Christus, aber auch Versöhnung mit den Mitmenschen um uns herum. Das hat hier im Nahen Osten einen ganz besonderen Klang: in einem Teil der Welt, in dem sich Menschen oft unversöhnlich gegenüber stehen.

Talitha Kumi ist eine deutsche Auslandsschule zwischen Bethlehem und Jerusalem. Wie kann es gelingen, angesichts des israelisch-palästinensischen Konflikts offen zu bleiben für Dialog und eine respektvolle Haltung beiden Seiten gegenüber?

Was in der Politik oft sehr schwer erscheint, weil man sich abschotten muss, da es quasi zur Staatsraison gehört, kann unter Umständen in einem Schulbetrieb viel eher möglich gemacht werden. Das Nachfragen junger Menschen – beispielsweise nach den Lebenswelten an- derer Jugendlicher – ist ganz normal, und wir als Schule sollten für dieses Interesse offen sein.
Unsere Fahrt in die internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Geschichtskurs der Oberstufe ist eine Möglichkeit, jungen PalästinenserInnen einen Einblick in die israelisch-jüdische Geschichte zu eröffnen. Diese Fahrt soll dazu beitragen, den anderen und seine Sicht der Geschichte jeweils besser kennenzulernen. Im Vorfeld holen wir uns auch die Erlaubnis der Eltern für ein solches Unterrichtsprojekt ein. Wir waren selbst erstaunt, wie direkt die Jugendlichen nach dem Besuch der Gedenkstätte in ihren Elternhäusern darüber berichteten. Besonders beeindruckend fanden unsere SchülerInnen nämlich nicht nur die Ausstellung in Yad Vashem; noch viel nachhaltiger wirkten die Berichte der ZeitzeugInnen und Überlebenden des Holocausts. Einer unserer Schüler berichtete mir, dass er sehr bewegt gewesen sei, weil er zum ersten Mal begriffen habe, unter welcher Not jüdische Menschen damals litten. Was sie erfahren mussten. Somit denke ich, haben wir einen ersten Schritt gemacht, dem noch weitere folgen könnten.

Auch unser trinationaler Austausch mit Jugendlichen aus Israel, Palästina und Deutschland, der in Emmendingen bei Freiburg stattfindet, bietet die Begegnung mit anderen Lebenswelten und Perspektiven. Dort geknüpfte Verbindungen bleiben oft über den Austausch hinaus lebendig, oft chatten die Jugendlichen über Whats App oder andere Soziale Medien und bleiben in Kontakt. So können wir als Schulzentrum zumindest einen Anstoß geben, sich für die Begegnung mit der anderen Seite zu öffnen.

 

Die Fragen stellte Silke Nora Kehl.

 

Foto: Talitha Kumis Schulleiter Matthias Wolf bei der Abschlussfeier im Frühsommer 2019.