Gemeinsam neue Rollenbilder ausprobieren: Birgitta Illerhaus, eine der beiden Leiterinnen unserer Grundschule berichtet über Gleichberechtigung und Geschlechter-Klischees.
Am Montagmorgen um 7.45 Uhr beim Unterricht in der dritten Klasse: „Ich brauche starke Mädchen, die mir helfen, die neuen Bücher für die Klasse zu holen“, sage ich.
Beim Blick in die Runde sehe ich große, freudige und erstaunte Mädchenaugen. Alle Mädchen strecken ihren Finger nach oben. Überraschung auch bei den Jungen. Ich sehe in ihre fragenden Gesichter. Mädchen sind stark und sollen Bücher tragen? Mohammed meldet sich und erklärt: „Ich bin auch ein Mädchen!“ Ein cleverer Versuch, den ich auch deshalb interessant finde, weil er das Wort „Mädchen“ gestern noch als Schimpfwort benutzt hat. Jedenfalls nehme ich alle elf Mädchen mit und verteile die Bücher unter ihnen. Sichtlich stolz tragen sie diese zurück in die Klasse.
In der zweiten Stunde haben wir Deutschunterricht. Hier sind Mädchen und Jungen immer abwechselnd an der Reihe. Die Kinder achten selbst darauf, sodass wir diese Regel nicht vergessen: „Jetzt ist ein Mädchen dran“, rufen einige. „Denn gerade war ein Junge dran!“ Manchmal schalte ich mich ein: „Lamar, du musst jetzt einen Jungen drannehmen. Yousef, jetzt wieder ein Mädchen.“
Auf dem Pausenhof: Es ist immer wieder eine Herausforderung, wenn sich die Kinder draußen aufstellen und zurück in ihre Klassen gehen sollen. Denn auch hier gilt die Regel: Junge- Mädchen-Junge-Mädchen. Das klappt nie gut. So oft höre ich die Mädchen sagen: „Ich will nicht neben einem Jungen stehen“ und die Jungs maulen: „Warum neben einem Mädchen?“ Aber das steht nicht zur Diskussion, die Regel gilt nun einmal für diese dritte Klasse. Am Ende geben die Kinder nach: „Na gut, wenn’s sein muss.“ Ja, muss es.Bislang gelten diese Regeln nur in einer von den insgesamt 13 Grundschulklassen – und das auch nicht immer, sondern nur in einigen Stunden. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Es geht darum, Mädchen und Jungen gleichermaßen stark zu machen. Grundsätzlich sind Mädchen sehr sichtbar in Talitha Kumi, sie melden sich zu Wort, sie verschaffen sich Gehör und werden in dieser koedukativen Schulgemeinschaft ernst genommen.
Dennoch existieren hier gleichzeitig sehr feste Rollenzuschreibungen: Annahmen, wie ein Mädchen zu sein hat und was Jungen im Gegensatz zu Mädchen ausmacht. In der palästinensischen Gesellschaft sind die Geschlechterrollen traditioneller besetzt als in Deutschland, wo es mittlerweile eine größere Vielfalt an Rollenbildern gibt. Viele palästinensische Mädchen passen sich eher den Erwartungen an – und werden in der Entfaltung ihrer Potentiale und ihren Möglichkeiten stark eingeschränkt. Alternative Lebensplanungen und Lebensformen außerhalb der traditionellen Familie sind für Frauen und Mädchen in Palästina nicht vorgesehen und kein selbstverständlicher Bestandteil der arabischen Kultur.
Wir baten die Mädchen und Jungen der dritten Klasse bei einer kleinen Umfrage mitzumachen: Was sagen sie über sich selbst und über das jeweils andere Geschlecht? Dabei kam Folgendes heraus:
- Mädchen sind: schön, brav, lieb und freundlich. Sie arbeiten hart, sie haben lange Haare und tragen immer ein Kleid. Der letzte Punkt ist interessant, denn in der Schule tragen alle Kinder eine Schuluniform und Hosen.
- Ein Mädchen kann: gut kochen, sich um die Geschwister und die Hausarbeit kümmern, putzen, aufräumen, spielen, lernen.
- Jungen sind: stark, aufmerksam, wütend, klug.
- Ein Junge kann: spielen – etwa Fußball, Auto fahren, schwimmen, sich rasieren, gut lesen und schreiben, streiten, lernen, viel arbeiten und Geld verdienen.
Dennoch sind viele palästinensische Frauen emanzipiert und selbstbewusst. Die Mehrheit der Frauen in der christ lich geprägten Region um Bethlehem, zu der auch Beit Jala gehört, ist berufstätig. Dass Frauen mit drei oder vier Kindern Vollzeit arbeiten und dann noch studieren oder sich ehrenamtlich engagieren – das gilt als selbstverständlich. Diese starken Frauen sind wichtige Vorbilder für die jungen Mädchen in der Region. Auch auf eine gute schulische Bildung wird sehr viel Wert gelegt – und zwar für Mädchen und Jungen gleichermaßen.
In Deutschland wiederum lässt sich seit einigen Jahren eine Rückkehr zur traditionellen Rollenzuschreibung an Jungen und Mädchen beobachten – davon zeugen zum Beispiel kommerzialisierte Motive auf Kleidung, Spielzeug und selbst in Form der kleinen Geschenke in rosa und blauen Überraschungseiern, die auf Klischees von „mädchenhaft“ und „jungenhaft“ zugeschnitten sind.
Auch in Talitha Kumi sind wir nicht frei von solchen Stereotypen, die sich immer weiter fort schreiben, wenn wir sie bedienen: Als Weihnachtsgeschenk gab es im letzten Jahr einen bunten Ball für die Jungen und Barbies für die Mädchen. Deswegen wollen wir im Grundschul-Team nächstes Jahr ganz bewusst neue, kreative Geschenkideen entwickeln – jenseits von Kitsch, Kommerz und überkommenen Geschlechterbildern.
Birgitta Illerhaus, geboren 1961, leitet seit Beginn dieses Schuljahres gemeinsam mit ihrer palästinensischen Kollegin Sahira Khair die Grundschule in Talitha Kumi. Zuvor hat sie dort zwei Jahre als Lehrerin gearbeitet.
Der Beitrag ist in der aktuellen Ausgabe 1/2021 von „Im Lande der Bibel“ erschienen, mit dem Schwerpunktthema: „Starke Frauen – Palästinensische Christinnen gestalten mit“ (Download als PDF-Datei)