Schulleiter Matthias Wolf und Verwaltungsmitarbeiterin Martina Fink berichten aus dem virtuellen Schulalltag in Talitha Kumi während der Corona-Epidemie in Palästina.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Aus aller Welt kamen bereits Berichte über das neue Corona-Virus, als Talitha Kumi Anfang März die Nachricht erreichte, dass Hotelgäste in Beit Jala an COVID-19 erkrankt seien. Hatte der 5. März, ein Donnerstag, noch als ganz normaler Schul- und Arbeitstag begonnen, so mussten auf Anordnung des palästinensischen Schulamtes plötzlich alle um die Mittagszeit Talitha Kumi verlassen. Da keiner das Ausmaß und die Dauer der Krise ahnte, blieben Schulbücher, Hefte und Unterrichtsmaterialien in der Schule. Bereits am Freitag riefen die Behörden den Notstand in der Region Bethlehem aus. Die Schulen mussten ihren Betrieb komplett einstellen. Bis auf weiteres, wie es hieß.
Dies war der Anfang einer sehr außergewöhnlichen Zeit in Talitha Kumi. Die Schulleitung konnte plötzlich nur noch für kurze Zeiträume vorausplanen, so unübersichtlich war die Lage. Am wichtigsten: Der Unterricht musste weitergehen, gerade für die Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen. Die Lehrerinnen und Lehrer waren gefordert ihre Schülerschaft von heute auf morgen virtuell zu unterrichten, Material anzupassen und neue Wege der Kommunikation und der Wissensvermittlung zu finden. Eine Herausforderung, wie man sich denken kann.
Online-Learning startet kurz nach dem Corona-Lockdown
Und wirklich, bereits drei Tage nach der Schließung, am 9. März, fand ein erstes Unterrichten via Online-Learning statt. Diese Umstellung auf ein virtuelles Lernen von zuhause aus hat, wie in Deutschland und überall in der Welt, eine große Veränderung in den Familien und ihrem Alltag mit sich gebracht. Die Eltern waren nun mehr gefragt denn je. Sie mussten – neben dem Homeoffice – den Schullalltag managen, besonders für ihre jüngeren Kinder. Mit zwei, drei oder noch mehr Kindern und Jugendlichen war das eine Herausforderung, diese Erfahrung machen gerade Familien auf der ganzenWelt. Aber für die palästinensischen Familien kommen fast immer zusätzliche, existentielle Sorgen hinzu. Das Sozial- und Gesundheitswesen Palästinas weist große Lücken auf. Es trägt nicht, insbesondere nicht in Zeiten wie diesen, die Menschen sind auf sich selbst angewiesen. Vielen Eltern arbeiteten im Tourismus, den es nicht mehr gibt, oder sind selbständig und haben keine Aufträge mehr: Die Einkommen brechen auf einen Schlag und unabsehbare Zeit weg.
Die palästinensische Bevölkerung ist jedoch resilient und ihre fröhliche und positive Art trägt sie auch in Zeiten wie diesen. Von Anfang an unterstützen die Familien mit großem Einsatz und Hingabe die Umstellung des Schulalltags auf Online-Learning. Dieses Engagement, sowie die herausragende Leistung der Lehrerschaft und Leitung, hat dazu beigetragen, dass das Online-Learning an Talitha Kumi so erfolgreich verlief.
Herausforderungen für die Familien
Da plötzlich alle zuhause waren, musste der Arbeits- und Schulalltag auf einmal und oft parallel von zuhause aus vom Küchentisch geplant, organisiert und durchgeführt werden. Wenngleich der tägliche Schulunterricht erst um 9 Uhr für die Schüler und Schülerinnen begann (und man zur Not auch mal im Pyjama zum Unterricht erscheinen konnte), hieß das noch lange nicht, dass weniger gelernt wird – die Lehrerinnen und Lehrer folgen dem Lehrplan aus Vor-Corona-Zeiten. Daneben wollte man den Kindern und Jugendlichen aber auch eine sinnvolle (und vertraute) Tagesstruktur bieten. Selbst der Musikunterricht fand deshalb wie gewohnt statt und wurde vor Ort (und aus Deutschland!) exzellent begleitet.
Aufgrund der plötzlichen Schließung blieb den Eltern keine Zeit Bücher oder anderes Schulmaterial mit nach Hause zu nehmen. Da viele Familien keinen Drucker besitzen (oder die Druckerpatrone nicht ersetzt werden konnte, da alle Läden geschlossen waren), musste auf Kreativität gesetzt, viel Schreibarbeit erledigt und schnell ein technisches Verständnis zur »digital paper application« entwickelt werden.
Auch wenn man den Stundenplan aufrechterhalten konnte: die Kommunikationswege waren neu und gewöhnungsbedürftig. Die älteren SchülerInnen waren im Vorteil, weil bereits vertraut mit sozialen Medienplattformen und technischen Geräten. Auf die Frage, wie es ihren Kindern im Teenageralter geht, lachte eine Mutter lediglich: »Gut natürlich! Was denken Sie? Sie verbringen die ganze Zeit am Telefon!« Die Kinder aus der Grundschule hingegen benötigten die Unterstützung ihrer Eltern, was oft viel Zeit und Nerven kostet.
Durch die Umstellung auf das Online-Learning wurde in kürzester Zeit ein großes technisches Verständnis von allen Beteiligten gefordert. Die Kinder und Jugendlichen mussten schnell lernen mit Unterrichtsplattformen und Videokonferenz-Software umzugehen; K12-Net, Zoom, Skype, Slack und Messenger. Bereits in der Grundschule lernten die Kinder auf Zoom gemeinsam mit ihren Lehrern und Lehrerinnen. Allerdings war das Online-Learning somit sehr abhängig von technischen Gerätschaften, die erst einmal vorhanden sein mussten.
Aufgrund des Notstandes arbeiteten auch viele Eltern von zuhause aus, sodass eine große Nachfrage nach elektronischen Geräten bestand, und zeitgleiche Zoom-Meetings lösten nicht selten einen Kampf um dieselben aus. Zum anderen war ein stabiles Internet erforderlich. Diese technischen Herausforderungen musste jede Familie, aber auch die Lehrerschaft, tagtäglich meistern – und das führte nicht selten zu Momenten voller Stress.
Im Notstand wurde plötzlich die Familie der Dreh- und Angelpunkt des Alltags. Das erforderte einen neuen, nicht minder geregelten Tagesablauf. Die vielen sozialen Kontakte, die wegfielen, galt es zu kompensieren. Allerdings brachte so ein Zusammenrücken der Familie auch viel Positives mit sich. Ungestört von Einflüssen von außen, hatte die Familie (wieder) Zeit gemeinsam zu essen, zu spielen und das Leben zu teilen.
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Zum Schluss ein persönlicher Dank von Schulleiter Matthias Wolf
»Als Schulleiter schaue ich mit großer Bewunderung auf diese ersten Wochen zurück. Mein Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen für ihren Einsatz, der oft über das Maß des Normalen hinaus ging, aber auch allen Familien, (Groß)Müttern, (Groß)Vätern und Kindern möchte ich meine Hochachtung darüber ausdrücken, wie beharrlich sie sich im »Krisenmodus« bewährt haben. Wir alle waren eine »Lerngemeinschaft« und haben bei allem Schweren, das die Krise auch hervorgebracht hat, sicher auch ganz neu Beziehungen stärken können. Und last but not least möchte ich als Evangelische Schule auch unserem Vater im Himmel für alles »Hindurchtragen« in diesen Krisenzeiten danken. Sein Segen möge unsere Schulgemeinde auch in Zukunft begleiten. Ein ganz herzliches Dankeschön an die Eltern Maria Zeidan, Rania Musallam und Tariq Jaidy sowie an ihre Kinder, die die Talitha Kumi Schule besuchen. Ihre Beispiele und Erfahrungen aus dem Alltag geben einen Einblick, wie das Leben in Beit Jala/Palästina zu Zeiten der Coronakrise aussieht. Bis zum Ende des Schuljahres, Ende Mai, wurden die Kinder und Jugendlichen via Online-Learning unterrichtet. Wir wünschen der gesamten Talitha Kumi-Familie, dass im August, mit Beginn des neuen Schuljahres alle wieder gesund und wohlbehalten an die Schule zurückkehren können.«