Yousef Tushyeh und Nicolas Al-Shatleh

Ich danke unseren Lehrer:innen!

Seit über zehn Jahren hat niemand mehr einen so exzellenten Abschluss gemacht: Nicolas Al-Shatleh erreichte 99 Prozentpunkte beim Tawjihe, dem palästinensischen Zentral-Abitur. Damit war er jahrgangsbester Absolvent im naturwissenschaftlichen Zweig. Nun studiert er Medizin an der Al-Quds-Universität in Jerusalem. Per Zoom traf er sich zu einem Gespräch mit Lehrer Yousef Tushyeh und Silke Nora Kehl.

Silke Nora Kehl: Nicolas, Deine Tawjihe-Ergebnisse sind herausragend. Wie hast Du das gemacht? Hast Du Tag und Nacht gelernt?

Nicolas Al-Shatleh (lacht): Nein, nachts konnte ich schon schlafen. Und ja, ich habe ziemlich hart gearbeitet – das muss man, um so einen Schnitt zu erreichen. Ich habe meinen Alltag sehr klar strukturiert und mich gut organisiert, sodass ich neben meinem akademischen Leben auch noch ein soziales Leben hatte – denn beides ist sehr wichtig. Mein größter Dank geht an unsere Lehrerinnen und Lehrer! Und auch an die Schulverwaltung. Sie alle haben uns in einer sehr schwierigen Situation, nämlich während der Pandemie, sehr unterstützt. Außerdem war meine Familie immer an meiner Seite, daher möchte ich auch meinen Eltern danken.

Yousef Tushyeh: Die Klasse von Nicolas hatte es während der Corona-Pandemie besonders schwer: Immer wieder infizierten sich Schüler:innen mit dem Virus, sodass die anderen in Quarantäne mussten. Ständig wurde zwischen Präsenz- und Onlineunterricht gewechselt. Es ist erstaunlich, dass Du unter solchen Umständen dieses exzellente Ergebnis erreicht hast, Nicolas. Denn es ist wirklich ein außergewöhnlich hoher Schnitt. Ich selbst habe Nicolas in Deutsch unterrichtet, er war einer meiner besten Schüler. Er hat sogar das Deutsche Sprachdiplom (DSD II) gemacht. Damit können sich Schüler:innen aus Talitha Kumi in Deutschland für ein Studium einschreiben.

Hattest Du denn noch Zeit für außerschulische Aktivitäten?

Nicolas: In der 12. Klasse war nicht mehr so viel Zeit dafür – außerdem waren die Aktivitäten wegen der Pandemie kaum möglich. Aber ja, in den Jahren davor habe ich im Schulchor gesungen und bin Mitglied der Talitha Kumi Scouts geworden. Dort haben wir viele Dinge gelernt, zum Beispiel uns in Camps selbstständig zu versorgen. Ehrenamtliche Arbeit zu leisten, gehört bei den Scouts auch dazu. Die Fähigkeiten, die ich bei ihnen erworben habe, waren sehr prägend für meine Persönlichkeit: Durch sie bin ich viel stärker und entschiedener durch mein Leben gegangen. Und ich bin noch immer bei den Scouts aktiv. Außerdem habe ich beim Schüleraustausch mit Deutschland mitgemacht, auch an dem trinationalen Austausch – also der israelisch-palästinensisch-deutschen Begegnungsfahrt nach Emmendingen (bei Freiburg).

Yousef Tushyeh: Dieses Austauschprogramm bietet Talitha Kumi seit vielen Jahren an.
Wie hast Du die Begegnung mit Deutschen und Israelis erlebt?

Nicolas: Wir sind nicht so tief in die Politik eingestiegen, sondern haben über andere Dinge gesprochen. Es war eine gute Begegnung. Und sehr spannend, israelische und deutsche Leute in meinem Alter kennenzulernen. Wir haben eben eher über das geredet, was uns verbindet, über Interessen, die wir teilen.

Die Corona-Pandemie ist leider noch immer nicht vorbei. Wie fühlt sich das an, wenn man wie Du gerade die Schule abgeschlossen hat? Wie ist die Lage an den Universitäten? Und im Alltag?

Nicolas: Die Geschäfte in Jerusalem und Bethlehem haben wieder geöffnet. Wenn man das so ausdrücken kann, würde ich sagen, dass unser früheres Alltagslebens zu etwa drei Vierteln wieder existiert. Zum Glück konnte ich mit meinem Medizinstudium an der Al-Quds-Universität beginnen. Weil die Deltavariante sich zurzeit stark ausbreitet, tragen wir Masken an der Uni. Das Studium findet wieder komplett in Präsenz statt, die meisten von uns sind gegen Covid-19 geimpft.

Yousef Tushyeh: Um am Präsenzunterricht an den Universitäten teilnehmen zu können, ist die Impfung für Student:innen mittlerweile Pflicht.

Weißt Du schon, in welche Fachrichtung Du Dich als Mediziner spezialisieren wirst? Und wo die Praxis-Stationen sein werden?

Nicolas: Das weiß ich im Moment beides noch nicht, mein Studium hat ja erst vor wenigen Wochen begonnen. Und wo ich meine praktische Erfahrung sammeln werde, kann ich gar nicht selbst entscheiden – das legt die Regierung fest. Ich würde gerne im Krankenhaus meiner Heimatstadt Beit Jala hospitieren! Hier möchte ich später auch als Arzt arbeiten. Viele Ärzt:innen in Beit Jala stehen kurz vor ihrem Ruhestand, junge Mediziner:innen werden also gebraucht.

Yousef Tushyeh: In unserer Region werden junge, gut qualifizierte Fachkräfte tatsächlich dringend gesucht. Und Nicolas würde, wie viele unserer Talitha-Kumi-Absolvent:innen, gern Medizin in Deutschland studieren – um sich noch besser zu qualifizieren. Denn das Medizinstudium an deutschen Universitäten ist sehr gut. Ich wünsche Dir sehr, dass Du es schaffst!

Du hast ja schon beschrieben, wie klar Du Dir Deine Ziele setzt und wie strukturiert Du Deine Arbeit einteilst. Hast Du auch einen Rat an andere, wie sie im Leben das erreichen können, was sie wirklich wollen?

Nicolas: Wenn Du etwas wirklich gerne machst, wirst Du Erfolg haben. Nichts wird Dich stoppen. Hart arbeiten und geduldig sein, das ist allerdings sehr wichtig. Denn nicht jeder Erfolg kommt sofort. Manchmal muss man dafür länger an einer Sache dranbleiben. So habe jedenfalls ich meine Ziele erreicht. Also: Tue, was Dich begeistert! Und sei dabei entschlossen!

Yousef Tushyeh: Hoffentlich lassen sich viele von Nicolas‘ Haltung anstecken. Er arbeitet hart, um etwas zu erreichen. Das ist für uns Palästinenser:innen – insbesondere für uns als christliche Minderheit – wirklich wichtig: Wir müssen hart arbeiten und eine sehr gute Ausbildung haben, um die Gesellschaft mitgestalten zu können. Wir müssen uns beweisen, jeden Tag. Und dieser Herausforderung werden wir uns stellen. Das ist unsere Mission in Talitha Kumi, diesen Spirit möchten wir an all unsere Schüler:innen weitergeben.

Nicolas Al-Shatleh (18) war von der ersten bis zur zwölften Klasse Schüler Talitha Kumis. Auch sein jüngerer Bruder und seine kleine Schwester gehen dort zur Schule. Sein Onkel ist Sportlehrer und Trainer des Mädchenfußball-Teams – und außerdem ehrenamtlicher Ersthelfer am Schulzentrum: Wenn sich ein Kind in der Pause verletzt oder in anderen in Notfällen leistet er Erste Hilfe. Offenbar liegt das Interesse für Medizin in der Familie.

Yousef Tushyeh ist seit zehn Jahren Lehrer am evangelisch-lutherischen Schulzentrum Talitha Kumi. Er unterrichtet Deutsch und Chemie im Deutschen Zweig. Als Schulkoordinator und Beauftragter für Public Relations arbeitet er eng mit der Schulleitung zusammen. Yousef Tushyeh koordiniert auch die Austauschprogramme in Talitha Kumi.